„Jedes Kind ist eigentlich hochbegabt!“ – Später zählt Leistung, egal wie?

„98% der Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2%.“ Dieses Zitat stammt aus dem Dokumentarfilm „Alphabet“, dem neuesten Film von Erwin Wagenhofer, der seit Oktober letzten Jahres in unseren Kinos läuft. Der Film hat eine einfache Botschaft: Begabung entfaltet sich durch „Liebe“. „Angst“ ist kontraproduktiv, insbesondere, wenn es um Lernen und Entwicklung geht. Im schlimmsten Fall ist sie tödlich. Häufige Suizide bei chinesischen Schülern legen ein Zeugnis davon ab. Der Film schickt uns auf eine Reise um die Welt, und zeigt uns, dass es beim schulischen Lernen heute vor allem um eines geht: um messbare Leistung und Wettbewerb. Dieser ungesunde Wettbewerb hat mit Beginn der Pisastudien  im Jahr 2000 noch groteskere Formen angenommen. Die Bildungslandschaft der OECD-Staaten wird seitdem regelmäßig alle drei Jahre evaluiert. Schülerleistung soll international vergleichbar und bewertbar sein. Der Film zeichnet ein düsteres Bild. So wird uns beispielsweise elfjähriger chinesischer Junge vorgestellt, ein Mathematiktalent, tägliche Lernzeit 15 Stunden. Während seine Großmutter voller Stolz seine bisherigen „Siegestrophäen“ vorzeigt, steht er unbeteiligt und mit müdem Blick daneben. Er zahlt wohl für seine Erfolge einen hohen Preis.

Die logische Konsequenz und die Botschaft des Films: was in der Schule anfängt, setzt sich im Beruf fort. Es geht vornehmlich um Leistung, um Konkurrenz, ums Bessersein als die anderen. Der Film gewährt uns Einblicke in einen Management-Talentwettbewerb in Kitzbühel. Dort erfahren wir aus dem Munde eines Protagonisten aus der Beraterbranche, wie man sich die Topmanager der Zukunft wünscht: Sie sollen „leistungsorientiert“ sein, „alles andere ist egal“.

Meine Meinung: genau das ist es nicht! Ich möchte an den Tod des Praktikanten erinnern, der im vergangenen Sommer in London an den Folgen von Überarbeitung gestorben ist. Der MacKinsey-Aussteiger Benedikt Herles, dessen Buch „Die kaputte Elite“, ebenfalls 2013 erschienen ist, gewährt uns Einblicke in die Welt der Unternehmen, die die Leistungsbereitschaft ihrer Mitarbeiter gnadenlos zum obersten Gebot erheben.

Auch in meiner Praxis als Berufscoach erlebe ich Menschen, die sich dem Leistungsprinzip mit Haut und Haaren verschrieben haben und dadurch in eine Krise geraten sind. Sie haben schmerzlich erlebt, dass etwas aus dem Lot geraten ist und wollen ihre persönliche und berufliche Balance wiederfinden.

Erfreulicherweise werden die Stimmen der Kritiker des gnadenlos um sich greifenden Leistungsprinzips in Schule und Beruf lauter. Im Film von Erwin Wagenhofer kommen einige von Ihnen zu Wort. Ihre Botschaften sind deutlich geworden.

Mindestens eine Frage bleibt offen: Wie können wir die Herkulesaufgabe stemmen und zu praktikablen Lösungen gelangen, die über den Einzelfall oder die Laborsituation hinausführen?

 

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